Von renommierten Biologen und Ökologen um den Leitautor Jeffrey A. Harvey vom Nederlands Institute of Ecology wurde am 06. Januar 2020 in der Fachzeitschrift nature ein Aufruf zu sofortigen Maßnahmen zum Insektenschutz veröffentlicht, unter dem Titel ‚International scientists formulate a roadmap for insect conservation and recovery‘.
Ausgehend von der gesicherten Erkenntnis, dass von Menschen verursachte Veränderungen ihrer Lebensbedingungen die Fülle, die Artenvielfalt und die Anzahl von Insekten und anderen Wirbellosen beeinträchtigen, verweisen die Autoren auf den starken wissenschaftlichen Konsens, dass der Verlust von Insekten, Gliederfüßlern und der gesamten Artenvielfalt eine reale und ernste Bedrohung darstellen. Die Verluste bedrohen den Erhalt von Ökosystemen und menschliche Lebensgrundlagen – man denke beispielsweise an die Bestäubung von Kulturpflanzen: „There is now a strong scientific consensus, that the decline of insects, other arthropods and biodiversity as a whole, is a very real and serious threat that society must urgently address.“
Um dieser Bedrohung zu begegnen, schlagen die Wissenschaftler Maßnahmen zur Bewahrung und Erholung von Insektenbeständen vor; neben neuen Forschungen zu Wechselwirkungen zwischen Umweltveränderungen und Insektenbeständen, der Analyse aktueller und historischer Daten, politischen und wirtschaftlichen Maßnahmen zur Bewahrung von Lebensräumen und Abwehr ihrer Zerstörung und einem globalen Monitoring werden Sofortmaßnahmen vorgeschlagen. Diese Vorschläge werden als ‚No-regret solutions‘ bezeichnet, da sie unabhängig von weiterer Forschung in jedem Fall die Situation der Insekten verbessern: „Taking aggressive steps to reduce greenhouse gas emissions; reversing recent trends in agricultural intensification including reduced application of synthetic pesticides and fertilizers and pursuing their replacement with agro-ecological measures; promoting the diversification and maintenance of locally adapted land-use techniques...“
Die Reduktion von Treibhausgas-Emissionen, der reduzierte Einsatz von synthetischen Düngemittel und Pflanzenschutzmitteln, die Ausweitung des ökologischen Landbaus und eine Landwirtschaft, die differenziert die lokalen Umweltbedingungen berücksichtigt, sind einige der Maßnahmen, weitere wie eine Förderung von ‚citizen science‘ zur Sammlung von Daten über die Entwicklung von Insektenbeständen werden genannt.
Für die ‚Lieblichen Orte‘ sind die folgenden Sofortmaßnahmen von besonderem Interesse: „…increasing landscape heterogeneity through the maintenance of natural areas within the landscape matrix and ensuring the retention and creation of microhabitats within habitats which may be increasingly important for insects during extreme climate events such as droughts or heatwaves; reducing identified local threats such as light, water and noise pollution, invasive species and so on; prioritizing the imports of goods that are not produced at the cost of healthy, species-rich ecosystems...”
Diese Vorschläge können lokal und regional umgesetzt werden: Erhöhung der landschaftlichen Vielfalt durch Erhalt von natürlichen Lebensräumen in der Siedlungsstruktur und die Bewahrung und Schaffung von Mikro-Habitaten, die Insekten und anderen Wirbellosen Rückzugsräume insbesondere in Zeiten extremer Umweltbedingungen wie bei Dürren oder Hitzewellen bieten; Reduktion von Beeinträchtigungen durch nächtliche Lichtemissionen, Lärm und die Schädigung von Gewässern; bewusster Konsum von nachhaltig umweltschonend kultivierten importierten Lebensmitteln.
Warum sind diese Maßnahmen für die ‚Lieblichen Orte‘ interessant? Sicherlich, weil die gesicherten und entwickelten Lebensräume auch den Menschen Erfahrungsqualitäten bieten, die nachhaltige Lebensweisen befördern können. Sicherlich auch, weil diese Maßnahmen durch persönliche Initiative, eigenes Wissen und eigene Kreativität, anregenden Austausch und im nahen Erfahrungsumfeld umgesetzt werden können.
Folgende Projekte und Handlungsweisen könnten beispielsweise aus diesen Vorschlägen abgeleitet werden:
- Ökologische Gestaltung von Gärten und Grünflächen zur Schaffung von Mikro-Habitaten
- Ökologische Gartenbewirtschaftung zur Bodenbelebung und Humusbildung
- Förderung einer nachhaltigen regionalen Landwirtschaft durch direkte Kommunikation und Vermarktung, Finanzierung der Schaffung und Bewahrung von Mikro-Habitaten
- Naturschutzmaßnahmen wie Lärmminderung und Reduktion nächtlicher Lichtemissionen
Die transition town-Bewegung bearbeitet solche Handlungsfelder. Das Konzept des ‚Einfach. Jetzt. Machen.‘ propagiert ebensolche ‚No regret-solutions‘ auf einer lokalen Handlungsebene.
Komplementär zum ‚Einfach. Jetzt. Machen.‘ sollten regionale politische und wirtschaftliche Handlungsräume erkundet und erschlossen werden. Das Ruhrgebiet bietet für solche Maßnahmen gute Ausgangsbedingungen:
- mit seiner kleinräumigen Topographie (Höhenlagen, Täler, Stadtwälder)
- mit einem gemäßigten Klima, meist regelmäßigen Niederschlägen und einer zumindest vorerst sicheren Wasserversorgung
- mit der innigen Verschränkung von Stadträumen, vorstädtischen Siedlungsstrukturen, Flusstälern und regionalen Grünzügen
- mit kleinteiligen landwirtschaftlichen Bewirtschaftungsflächen und kurzen Wegen für die direkte Vermarktung landwirtschaftlicher Erzeugnisse und für die direkte Kommunikation
- mit regional ausgerichteten wirtschaftlichen und politischen Akteuren
- mit einem relativ niedrigen Marktdruck (Bodenpreise, wirtschaftliche Konzentrationsprozesse)
Die Autoren schließen: „Most importantly, we should not wait to act until we have addressed every key knowledge gap. (...) Implementation should accompanied by research that examines impacts, the results of which can be used to modify and improve the implementation of effective measures. Furthermore, such a ‘learning-by-doing’ approach ensures that these conservation strategies are robust to newly emerging pressures and threats. We must act now.”
Die Bedeutung eines action research-Ansatzes für eine learning-by-doing-Strategie liegt in der Verbindung methodischen wissenschaftlichen Arbeitens mit einem engagierten Eingreifen. So müssen wir nicht das „Schließen aller Wissenslücken“ abwarten, um Schutzmaßnahmen einzuleiten und auszuweiten. Die gewonnenen Erfahrungen und Erkenntnisse können zeitnah in den wissenschaftlichen Diskurs und die Praxis eingebracht werden.
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